Lehrkunst

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Wagenschein-PrÀsentation: Susanne Wildhirt

Ich möchte zu Ihnen ĂŒber zwei Themen sprechen:

1. Über die Unerschöpflichkeit des UrsprĂŒnglichen und
2. ĂŒber die Bildung

Martin Wagenschein schreibt 1968 (in Verstehen lehren, S. 52): „Niemand weiss, ob wir in fĂŒnfzig Jahren“ – das wĂ€re im Jahr 2018 – „niemand weiss, ob wir in fĂŒnfzig oder hundert Jahren in unseren Breiten ĂŒberhaupt noch kopfschĂŒtteln oder lĂ€cheln werden. Wenn ja, dann gewiss auch ĂŒber eine Schule, die glaubte, durch AnhĂ€ufung von halbverstandener und verabsolutierter Wissensergebnisse irgend etwas retten zu können. ‚Mut zur LĂŒcke?’, sagten wir anfangs, leicht missverstĂ€ndlich. Wir meinten: ‚Mut zur GrĂŒndlichkeit’, ‚Mut zum UrsprĂŒnglichen’. An die Stelle des Idols der breiten und statischen VollstĂ€ndigkeit, die uns Ă€ngstlich Vorratskammern fĂŒllen lĂ€sst, suchen wir offenbar etwas Neues, einen entschlossenen Durchbruch zu den Quellen. Nicht VollstĂ€ndigkeit der letzten Ergebnisse, sondern die Unerschöpflichkeit des UrsprĂŒnglichen.“ (S. 53 Hervorhebung M.W.).

Die „Stoffhuberei“ der LehrplĂ€ne aus der WagenscheinĂ€ra sind lĂ€ngst ersetzt durch „Kompetenzen“, „Teilkompetenzen“, „Kompetenzaspekte“, „Kompetenzstufen“. UnĂŒbersichtlich ist der Haufen dessen immer noch, was die Schule tun soll. Dabei ist in der Zwischenzeit zur ersten Welt der PhĂ€nomene (Wagenschein: „Rettet die PhĂ€nomene“) nicht nur die zweite Welt getreten, die Wissenschaftswelt - die Welt der Zeichen, Symbole und komplexen Theorien, die, wenn nicht von den UrsprĂŒngen her unterrichtet wird, das Wissen verdunkelt: lĂ€ngst ist die Wagenschein noch unbekannte dritte Welt der VirtualitĂ€t hinzugetreten.

 Aber die Schule hat nach wie vor das Zeug dazu, Kindern VERSTEHEN zu ermöglichen – und damit ein Stehen auf und in der Welt, Stehen mit beiden FĂŒssen mitten im eigenen Leben, ein Lernen und Verstehen nicht auf Vorrat, sondern jetzt und hier und heut mitten in der Jetzt-Welt, Stehen in der Kultur, Aufrecht-Stehen mit gerader WirbelsĂ€ule: Die Schule hat nach wie vor einen Bildungsauftrag und Bildungsziele, die – ich denke weiterhin – landauf, landab doch einigermassen sinnvoll erscheinen – Bildungspolitik und Einsparungsmassnahmen hin oder her. Starten wir also bei der Unerschöpflichkeit des UrsprĂŒnglichen. Fragen wir danach, wie UrsprĂŒngliches schöpferisch werden kann.

Wagenschein hat Geschichten gesammelt, Geschichten von Kindern auf dem Wege zur Physik. Ich begann, Bildungserlebnisse zu sammeln – auch eigene.   

Ein Kindheitserlebnis

Ich war viereinhalb Jahre alt, als ich auf eindrĂŒckliche Weise „Mathematik“ erleben durfte, und dieses Ereignis lĂ€sst mir noch heute, wenn ich die Geschichte erzĂ€hle, jedes Mal ein Schaudern ĂŒber die Unterarme rieseln. In unserer Nachbarschaft wohnte ein junger Mann, Michael, ein Mathematikstudent. Daraufhin befragt, was er eigentlich treibe und was Mathematik denn sei, antwortete er eines Abends beim Nachhausegehen - ich erinnere genau den Wortlaut: „Deine Schwester geht doch schon zur Schule. Dort hat sie Rechnen.“

– Klar, dachte ich, und sah vor mir die Hefte mit den vorgegebenen Karos und der Ansammlung von Zahlen und Zeichen. Ich meinte oberschlau: „Ja, ich kann auch schon zĂ€hlen.“ – Er: „Also los.“ Wir setzten uns auf die Treppenstufen vor dem Haus und er ließ mich zĂ€hlen. Er schaute mich einfach an und hörte zu. Lediglich wenn ich stockte, ĂŒberlegte, unsicher schaute, nickte er oder neigte seinen Kopf zur Seite. ZunĂ€chst: „Achtzehn, neunzehn, zwanzig, ein- (ein erstes Nicken) und-zwanzig
“ (wieder Nicken, wieder aufmerksames Zuhören bis neunundneunzig). Dann: „Hun-dert?“ – Wieder nickte er. „Hundert
-eins?“ Er nickte, ich zĂ€hlte weiter bis hundertneunundneunzig, wĂ€hrend die Sonne unterging. Schließlich kam ich an bei Neunhundertneunundneunzig, mein Mund war lĂ€ngst trocken. Es klang wie ein Punkt. Doch er half, den Kopf seitlich auf den Arm gestĂŒtzt, einfach weiter: „Tausend.“ Ich blickte ihn groß an, das Wort hatte ich schon einmal gehört, aber er schwieg wieder und schaute erwartungsvoll. Ich also weiter: „Tausend – und – eiiins?“ Er nickte. Mir schauderte, und als ich weiterfuhr mit „Tausendundzwei, tausendunddrei, 
 .“ bildete sich der verrĂŒckte Verdacht in mir, dies alles höre niemals auf, wir wĂŒrden die ganze Nacht da sitzen, ich wĂŒrde immer weiterzĂ€hlen, Michael wĂŒrde immerzu nicken. Mir schauderte, wir hatten weder gegessen noch getrunken. Irgendwo bei Tausenddreihundert-und-etwas beendete Michael meine allererste Mathematiklektion mit den Worten: „Siehst du, das studiere ich.“ Mit dem sicheren GefĂŒhl, dass die Zahlen niemals enden wĂŒrden, trollte ich mich nach Hause – ich war fasziniert.

 

Dies war mein erstes echtes Bildungserlebnis, das ich erinnere, und eines der wenigen, die ich im Fach Mathematik erleben durfte. Es folgte kein weiteres in der Schule, was dem standhalten konnte, auch nicht in anderen Fachgebieten. Jenes fand in einer gewohnten Umgebung statt, mitten im Alltag, jedoch aus ihm herausgehoben, weil Zeit und Raum vorhanden waren fĂŒr meine Frage und Michaels noch bessere Antwort, die darin bestand, mir zuzuhören statt eine definitorische, kindgemĂ€ĂŸ formulierte ErklĂ€rung zu geben, stattdessen sein LĂ€cheln, das mich herausforderte und konstruieren ließ, anknĂŒpfte an meinem eigenen kleinen Erleben und meinem noch kleineren VerstĂ€ndnis. Es liess mich baden im PhĂ€nomen, machte mir Mut, dranzubleiben und fĂŒhrte mich so aufmerksam und vertrauensvoll zur schwindelerregenden Entdeckung des Nichtabbrechens der Folge natĂŒrlicher Zahlen. Mein Gott, ich hab den Zahlenraum entdeckt.

 

Wagenschein schreibt in Verstehen lehren (S. 41f): „Aufregend ist diese Erfahrung, nicht nur interessant. „Heimisch“ werden muss man in einer Sache, bis sie sich so offenbart; - „leuchtend“ wird diese Erfahrung dann, im Gegensatz zu der Beleuchtung, die der Lehrer im Schnellverfahren geben muss; - sie erhellt, und zwar „plötzlich“ wie jedes entscheidendes geistige Geschehen, sofern ihm die Geduld vorausging (...). Es fĂŒllt einen grösseren Raum, nicht des Faches, sondern „in unserem Denken“, ja im „Raume unseres Lebens“. Wir haben hier also den seltenen und schon ĂŒbergeordneten Fall, dass das Ganze der geistigen Welt und das Ganze der Person von einer solchen fundamentalen Erfarhung ergriffen wurde. Das ist die Ausleösung eines „Bildungs“-Prozesses.“

Denke ich heute an dieses Ereignis, so ist im Ausnahmezustand dieser Stunde oder Stunden mein Interesse fĂŒr Bildung entstanden, das mir sehr viel spĂ€ter zum Beruf werden sollte. Kindern und Jugendlichen sollte es ermöglicht werden, in der Schule immer einmal wieder in rund 18.000 ! Stunden ein Bildungsereignis zu erleben, das „unter die Haut“ geht.

 

Aus den unerschöpflichen Quellen des UrsprĂŒnglichen schöpft die Lehrkunstdidaktik ihre Themen, die sie in Aufgaben verwandelt , die aus der der Quelle selber stammen.

Wagenschein hat es geschafft, fĂŒr „seine“ FĂ€cher Mathe und Physik Funktionsziele abzuleiten, die sich heute in erstaunlicher Weise mit den Kompetenzaspekten in Mathe und Physik ĂŒbereinstimmen. Die Lehrkunstdidaktik versucht, Wagenscheins Didaktik auch in anderen FĂ€chern auszuprobieren. Ich schildere ein Beispiel aus dem Fach Deutsch. Sie sind live dabei: Aesop dichtet seine erste Fabel.

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