Lehrkunst

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Aufbruch zum Ausbruch

om 8. bis 10. September ging in Heidelberg die erste Summer School des Vereins LEHRKUNST.ch über die Bühne. Hauptgewinn war die Vernetzung von Lehrkunst-Schaffenden aus drei Ländern.

Mit „Perspektiven lehrkunstdidaktischen Arbeitens in Theorie und Praxis“ wurde das Thema der ersten Summer School der Lehrkunstdidaktik unverbindlich in wissenschaftlichem Jargon umschrieben. Etwas profaner ausgedrückt ging es um Lehrstücke, um deren Konzept, um ihre pädagogische und historische Begründung, aber auch um ihre Unfähigkeit, in der breiten Praxis des Schulalltags Fuss zu fassen.

Der Auftakt

Das Organisationsduo Mario Gerwig und Manuel Hermes begrüsste 26 Teilnehmende: Hochschulprofessoren, Dozenten, Lehrpersonen und Studierende aus Deutschland, aus der Schweiz und den Niederlanden – unter ihnen waren 8 Frauen. Das Eröffnungsreferat hielt Hans Christoph Berg. Er sprach vor allem von den Lehrstücken in der Praxis. In den neunziger Jahren gelang der Sprung auf die Lehrpersonenebene, später in die Schule. Doch die Lehrkunstdidaktik auch als Schulentwicklungsmotor zu verstehen, ist der Zukunft vorbehalten. Die beachtliche Anzahl Lehrstücke öffne den Weg auf die Schulsystemebene. Lehrstücke könnten als verbindliche Inhalte in Curricula aufgenommen werden. Kompetenzorientierte Lehrpläne, wie diese gerade in der Schweiz eingeführt werden, lassen verbindliche Inhalte vermissen. Lehrstücke könnten in einer Schuldatenbank (z.B. FIS-Bildung oder auf der Ebene eines anerkannten Forschungsinstituts) aufbewahrt und abgerufen werden. Lehrstücke müssen aber strengen Qualitätsmerkmalen genügen. Was nicht gut ist, wird verbessert – eine methodisch-kumulative Optimierung. Es könnten dereinst 200 Inhalte aufgearbeitet sein.

Internationale Beteiligung bei der ersten Summer School der Lehrkunstdidaktik in Heidelberg

Manuel Hermes setzte sich mit der Entstehungsgeschichte der Theorie der kategorialen Bildung von Wolfgang Klafki auseinander. Dabei wurde erneut klar: Bildung, welche im Leben steht, unterwirft sich nicht einfach der Rationalität, vielmehr erkennt sie auch die Emotionalität des Seienden. Bildung muss Fragen auslösen. Staunen, Suchen und Getriebensein holen ihre Kraft aus Emotionen und schaffen eine Innensicht der Welt. Die Aussensicht entsteht durch die Abstraktion. Wo Innensicht und Aussensicht zusammentreten, kann Veränderung entstehen und am Ende bilden sich die Werte. Bildung ist in jedem Fall ein Lernen. Im Jubiläumsbuch (Das Schulwesen soll und will auch ein Bildungswesen sein, hrsg. von M. Gerwig und S. Wildhirt, 2016) zitiert Andreas von Prondczynsky den Pädagogen Ulrich Hermann, der Bildung „reflexive Selbstkonstitution von Subjektivität“ nennt (S. 41).

Mario Gerwig stellte fest, dass der Lehrkunstunterricht in der Bildungsszene isoliert ist. Pädagogische Konzepte müssen nicht nur einer geisteswissenschaftlichen Analyse standhalten, sie müssen auch empirisch ihre Nützlichkeit unter Beweis stellen. Gerwig legte einen Forschungsplan zur empirischen Überprüfung des Lehrkunstunterrichts vor. Dabei gelte es aufzuzeigen, dass Lehrkunstunterricht nicht nur freudvoll und kulturell passend, also einer subjektivistischen Perspektive folgend, sondern auch aus einer objektivistischen Sichtweise effektiv und funktional passend sei. Die Lehrkunst selber begründe und beschreibe mehr aus der subjektivistischen Perspektive und befinde sich damit auf einem Seitenpfad neben der dominanten Strömung: Die offizielle Diskussion orientiere sich an der objektivistischen Betrachtung. Mit einer Transformation könnte es gelingen, die Lehrkunst aus ihrer Isolation zu befreien.

Die Vertiefung

Moritz von Knebel stellte die provokative Frage: „Wenn das doch so toll ist, warum ist es nicht schon überall?“ Liegt es am Kunstbegriff? Ist „Lehrkunst“ vielleicht doch eine unstatthafte Überhöhung? Sind Lehrstücke, welche nach Christoph Berg Kunststücke sein sollen, zu elitär? Werden hier Alltag und Idealität gegeneinander ausgespielt? Sind so gründlich durchdachte und durch-„komponierte“ Lehrstücke nicht vollständig lehrerzentriert? Am Beispiel des Lehrstücks UAZ entkräftete von Knebel all diese Bedenken und meinte: „Wir dürfen im Informieren und Erklären nicht müde werden, denn steter Tropfen höhlt den Stein.“

Damit wurde der Startschuss für den praktischen Teil gegeben. Stella Tappert erarbeitet im Lehrstück „Die Bassermanns“ mit ihren Schülerinnen und Schülern eine Familiengeschichte des Bürgertums. Dabei wird erkennbar, wie diese über Generationen von der Geschichte des Industriezeitalters geschrieben wurde. Das Lehrstück basiert auf der literarischen Vorlage von Lothar Gall. Oscar Lindloff ringt an einem Dialog zwischen Aristoteles und Jesus. Benjamin Günther interessiert die philosophische Dimension der Begriffsbildung und hofft daraus ein Lehrstück zu entwickeln. Stephan Schmidlin stellte sein Lehrstück zu Chomsky vor. Dabei erhob sich die Frage, ob Chomsky den Weg zu einem Informatiklehrstück aufzeigen könnte. Christoph Berg pflegt weiterhin sein erfolgreiches Seminar an der Uni Marburg. Carry Fladung steht ihm zur Seite und bringt neue Ideen ein. Das Seminar ist der Hauptmotor der Lehrkunstdidaktik. Hochmotivierte Studentinnen und Studenten sowie Doktorandinnen und Doktoranden lernen und forschen bei Christoph Berg. Auch in Bern führen Christoph Berchtold und Michael Jänichen viele Studentinnen und Studenten in die Lehrkunstdidaktik ein. Mit grossem Enthusiasmus entstehen während der Ausbildung interessante Entwürfe zu Lehrstücken. Während aus dem Seminar in Marburg junge Lehrpersonen in den Beruf gehen und Lehrstücke inszenieren, scheint sich die praktische Anwendung des Gelernten für Absolventinnen und Absolventen der Berner Volkschullehrerausbildung sehr viel schwieriger zu gestalten. Diese unterschiedlichen Feststellungen müssen analysiert werden. Praktische Hilfe für Lehrpersonen, welche Lehrstücke entwickeln und beschreiben möchten, zeigten Michael Jänichen und Bastian Hackler auf. Michael Jänichen zeigte an Beispielen, wie Lehrstücke grafisch geplant werden können. Bastian Hackler verwendete die Suppe als Metapher zur Darstellung eines Lehrstücks. Diskussionsforen schafften reichlich Möglichkeit zur Vertiefung und Erweiterung des Präsentierten.

Ausblick und Ausklang

Suanne Wildhirt faszinierte die Teilnehmenden der Summer School noch einmal mit einem motivierenden und differenzierten Abschlussreferat. Es gelang ihr ausgezeichnet, das vielfaltige, komplexe und oft auch irritierende Verhältnis zwischen Lehrkunstdidaktik und der heutigen Schulwirklichkeit herauszuarbeiten. Die folgende Metapher hat sich bei mir eingenistet. Der Leserin oder dem Leser möchte ich die Chance, darüber nachzudenken, nicht entgehen lassen: „Kork schwimmt im Wasser und geht nicht unter. Doch Wasser ist ihm fremd.“ Lehrstücke sind Kunstwerke und das soll so bleiben. Ob Lehrkunstdidaktik nur Lehrstücke herausbringen soll, ist eine andere Frage. Einmal mehr erlebten wir eine Veranstaltung, welche begeisterte. Die Lehrkunst soll aus der Isolation heraustreten. Die begeisterten Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden dabei helfen. Es sind viele Ideen da: Lehrkunstarchiv, Fallforschung, digitale Darstellung von Lehrstücken oder die Lehrkunst im Diskurs mit der Schulrealität. Es ist gut möglich, dass ein Widerspruch in der Lehrkunstdidaktik nicht aufgelöst werden kann: Lehrstücke in ihrer anspruchsvollen und hochentwickelten Form sind geformt und gemacht. Lehrkunstunterricht betont nicht das Ergebnis, sondern den Prozess. Der Weg zur Erkenntnis ist für das Lernen im Mittelpunkt. Wer den Prozess zur Herstellung von Wissen als Auseinandersetzung zwischen Innensicht und Aussensicht erfahren hat, kann wissenschaftliche Erkenntnis nicht einfach negieren oder als „Fake-News“ abtun. Ist das mit hochentwickelten Lehrstücken möglich? Dafür spricht, dass die Inszenierung das Fluide betont.

Zum Abschluss sei mir eine letzte Metapher erlaubt. Jeder engagierte Winzer produziert einen Spitzenwein. Darauf stützt sich sein ganzer Stolz. Doch dieser Wein bleibt eine Exklusivität. Er gibt dem Weingut das unvergleichliche Profil. Doch kein Winzer kann es sich leisten, nur diesen Spitzenwein zu produzieren. Zu klein ist der Ertrag, zu hoch der Preis. Er führt einfachere Weine in seinem Sortiment. Die Produktion ist weniger aufwendig, die Menge ist grösser. Er arbeitet deswegen nicht weniger sorgfältig. Seine Handschrift ist auch hier spürbar. Viele Menschen geniessen diese Weine dankbar. Den Spitzenwein könnten sie sich gar nie leisten.

Willi Eugster