Lehrkunst

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Wie die Burg Geschichte macht

Am historischen Ort von Schloss und StĂ€dtchen Werdenberg im St. Galler Rheintal liegen alle Ingredienzien bereit fĂŒr ein LehrstĂŒck zur europĂ€ischen Geschichte vom Mittelalter bis heute. Der Ort bietet Geschichte zum Anfassen und zum Erleben, weil er dank sorgfĂ€ltiger Erhaltung und museumsdidaktisch ausgezeichneter Erschliessung Geschichte an einem Ort genetisch lesbar macht.

Jedes LehrstĂŒck operiert bekanntlich mit einer BĂŒndelung von Lehrstoff zu einem exemplarischen Lehrgegenstand, um die fachliche StoffĂŒberfĂŒlle handhabbar zu machen. Dabei hilft es meistens, den Lehrgegenstand aus dem Stoff in einer historischen Umbruchsphase herauszupflĂŒcken und ihn im heutigen Unterricht mit denselben Forschungsfragen zu erschliessen, mit denen frĂŒhere Forschungspioniere ihn fĂŒr sich erschlossen hatten. Dieses genetische Vorgehen hat sich bei vielen Themen bewĂ€hrt – es stösst aber dort auf Grenzen, wo das PhĂ€nomen die Geschichte selber ist. Wohl kennt die Geschichte auch UmbrĂŒche wie die grossen Revolutionen, aber ihr Wesen ist wohl eher mit der Metapher des langen Zeitstroms zu fassen, an dessen je jĂŒngstem Punkt wir Lernenden stehen. Stehen ist dabei ein Hilfsbegriff, eigentlich werden wir von diesem Strom jederzeit mitgetragen und weitergespĂŒlt – wir können aber lernen, uns schwimmend darin zu bewegen – , aber fĂŒr eine Lernintervention supponieren wir am besten einen festen Standpunkt an einem historischen Ort. „Grabe, wo du stehst!“ heisst die Parole, die unsere Lernenden sofort ins historische Lernen verwickelt, weil sie von sich als einem historischen Entdeckersubjekt ausgehen und ihre FundstĂŒcke zu sich in eine geschichtliche Beziehung setzen mĂŒssen. Aus dem Ensemble der FundstĂŒcke und Quellen können sie sich danach ein Geschichtsbild erarbeiten.

Postkarten-Mittelalter: See, Stadt und Schloss Werdenberg

Postkarten-Mittelalter: See, Stadt und Schloss Werdenberg


Feudales Ensemble im Wasserspiegel

Prinzipiell verrĂ€t jeder Ort bei solchen Tiefengrabungen etwas ĂŒber seine und ĂŒber die Geschichte, aber manche sind natĂŒrlich geschichtstrĂ€chtiger als andere, manche sind schon ein StĂŒck weit „ausgegraben“ oder historisch lesbar gemacht. Wir können sie dann bequem als Vorlage fĂŒr ein GeschichtslehrstĂŒck nutzen. Ein solcher geschichtsdidaktisch erschlossener Ort existiert in der Schweiz im StĂ€dtchen Werdenberg im St. Galler Rheintal, nahe bei der Grenze zu Liechtenstein und zu Österreich. Seine Lesbarkeit erweist sich schon im Äusseren: Wer sich von der Bahnstation Buchs her auf der Staatsstrasse nĂ€hert, hat in Werdenberg plötzlich ein feudales Ensemble vor Augen: Oben auf dem HĂŒgel thront das steinerne Burgschloss, am Abhang wachsen die Reben und am HĂŒgelsaum „kleben“ eng beieinander die HĂ€user des mittelalterlichen StĂ€dtchens, einer der wenigen noch erhaltenen Holzbausiedlungen aus dieser Zeit in ganz Europa. Bei schönem Wetter spiegelt sich das Ensemble (verkehrt) im vorgelagerten Werdenbergsee und lehrt den Betrachter gleich die erste Lektion: Was in der Geschichte einmal oben ist, bleibt nicht immer oben.

Wo einst durch die Anhöhe abgehoben die weltlichen Edlen residierten, gehen nun alle ein uns aus: Das 800-jĂ€hrige Schloss ist heute in Staatsbesitz und dient als Kulturhaus der Allgemeinheit. In seinen MuseumsrĂ€umen ist die Geschichte der herrschenden Klasse greifbar, im StĂ€dtchen unten in einem der BĂŒrgerhĂ€user (dem sogenannten Schlangenhaus) die Geschichte der Untertanen. Und innerhalb dieser MuseumshĂ€user beginnt die Ausstellung jeweils im Keller mit der Genese des Orts Werdenberg, nĂ€mlich mit der Baugeschichte der Burg und der Stadt. Genau genommen beginnt der Lernweg im Kellerverliess des Schlosses mit einer interaktiven EinfĂŒhrung in die historische Hauptmethode: ins (archĂ€ologische) Graben. Dann folgt die bauhistorische Genese des Orts und die Geschichte der ersten Adelsherren im 12. Jahrhundert. Im ersten Stock besucht man sie in ihrem Rittersaal, und indem man hoch und höher steigt im Wohnturm, gelangt man ins Wohnsetting der Herren (ganz zuletzt: der Damen) in spĂ€teren Jahrhunderten und kann die VerbĂŒrgerlichung der Elite an den Wohneinrichtungen ablesen. ZusĂ€tzlich zu den historischen Einblicken, unterstĂŒtzt von Schautafeln, Dingen zum Anfassen und Hörszenen zum Eintauchen, gibt’s auch Ausblicke ins Land hinaus – die Beobachtung der „Verkehrsbewegungen“ war ja die Hauptfunktion der HĂŒgelburgen – ; man sieht etwa die Rheinebene als Sumpfgebiet mit mĂ€andernden Flussarmen und begreift sofort, weshalb die Burgen und Ortschaften oben an den HĂ€ngen gebaut wurden. Und zuoberst, wenn wir auf dem Ausguck im 21. Jahrhundert ankommen, könnte der historische Kontrast nicht grösser sein: Werdenberg ragt inmitten einer durchschnittshĂ€sslichen Schweizer Agglomeration hervor als Oase eines Bilderbuch-Mittelalters.

Ein mehrstrÀngig lesbarer Ort

FĂŒrs LehrstĂŒck ist es von Vorteil, dass Werdenberg historisch ein durchschnittlich unbedeutender Adelssitz war und dass sich das StĂ€dtchen nie auch nur zu regionaler Bedeutung entwickelt hat. Seine Geschichte reprĂ€sentiert deshalb viel mehr als die historischen „Zentrumsorte“ den alltags-geschichtlichen Normalfall einer bu(e)rgerlichen Entwicklung. Zusammen mit der stark ethnographisch ausgerichteten Ausstellung im Museum des StĂ€dtchens enthĂŒllt der historische Ort jedoch verschiedene StrĂ€nge: Man kann einen allgemeingeschichtlichen verfolgen (der Weg von der Burg zur Stadt), einen baugeschichtlichen (Stein- und Holzbauten, innen Komfortsteigerung, ablesbar etwa an den Fenstern, an den Heizsystemen), einen schweizergeschichtlichen (die Burg war drei Jahrhunderte lang Sitz eines Glarner Vogtes) und natĂŒrlich einen politisch-sozialgeschichtlichen (im 15. Jahrhundert errichteten die StadtbĂŒrger auf halber Höhe ihr steinernes Rathaus). Trotzdem brachten auch hier die Französische Revolution und Napoleon die entscheidende Wende in die Neuzeit; auch diese Wende ist bestens dokumentiert und könnte didaktisch am Anfang einer geschichtlichen Spurensuche im Museumsort stehen.

Das lebendige Museum in der Vogelschau

Das lebendige Museum in der Vogelschau


Didaktisch gesehen schafft der Ort die stoffliche BĂŒndelung der Geschichte, die wir fĂŒr einen LehrstĂŒckunterricht brauchen. Der Rheinstrom nebenan darf gerne die Metapher vom historischen Strom der Zeit abgeben, vor 20‘000 Jahren schon fĂŒllte er als Gletscher und See die ganze Landschaft und prĂ€gt sie bis heute mit seinem Geschiebe. In 20‘000 Jahren wird der Bodensee davon aufgefĂŒllt sein. Wir stehen heute zwischen diesen (unvorstellbaren) geologischen VerĂ€nderungen und können dank den historischen PrĂ€gungen in Werdenberg, die durch die „Rettung“ des Orts vor 60 Jahren erhalten geblieben sind, ein StĂŒcklein Menschengeschichte an PhĂ€nomenen wie HĂ€usern, Steinen, GerĂ€tschaften, Möbeln ablesen und geschichtliche Kategorien wie Mittelalter, Adel, Vogtei, BĂŒrgertum, AufklĂ€rung, Neuzeit, Industrialisierung usw. gewinnen. Die Dramaturgie des Unterrichts ist vom Museum im genetischen Entdeckerweg von unten nach oben vorgespurt – sie kann variieren in AbhĂ€ngigkeit von den Schwerpunkten, die wir wĂ€hlen (welche StrĂ€nge verfolgen wir?), und der Zeit, die wir fĂŒrs LehrstĂŒck einsetzen. Schade wĂ€re einzig, das Museum Werdenberg, diese einzigartige didaktische Vorgabe, links liegen zu lassen, wie es der kanalisierte Rhein heute tut.

Stephan Schmidlin

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